Die fünf Spiegel
Die fünf Spiegel
Zu Salomon kamen vielerlei Leute mit ihren Fragen. Einen bewegte (er drückte sich neuzeitlich aus, wenn das Problem auch alt ist) die Suche nach seiner Identität.
„Wer bin ich? Wie erkenne ich mich selbst? – Ich mag grübeln, mich selbst bespitzeln oder mich nach gelehrten Methoden analysieren – mein Ich bleibt mir verborgen.“ „Wenn du dein Äußeres, dein Gesicht erkennen willst“, antwortete Salomon, „was machst du?“
„Welch eine Frage! Natürlich blicke ich in den Spiegel!“ „Und dein Wesen, dein Inneres in seiner reichen Vielfalt willst du ohne Spiegel erforschen?“ „Erkläre mir das!“, bat der Ratsuchende. „Deine Spiegel sind fünf, abzählbar an den Fingern einer Hand: deine Frau, deine Freunde, die Kinder, die Tiere, die Pflanzen. Wie entfaltet sich an deiner Seite die Frau? Wie erschließen sich dir deine Freunde? Wie öffnen sich Kinder in deiner Gegenwart? Wie zutraulich nähern sich dir die Tiere? Wie gedeihen unter deinen Händen die Pflanzen? In diesen fünf Spiegeln wirst du erkennen, wer du bist und was dir noch fehlt.“
Aus: Katharina Seidel, Der Engel des Moshe. Moderne Gleichnisse II, Luzern 1999