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    Zerstörte Blumen – Die tiefen seelischen Wunden durch Missbrauch

    Bild von Vitaly Kobzun auf Pixabay

    Nachfolgend ein etwas längerer – weil ungekürzter – Gastbeitrag von Réne Schubert. Manche kennen Réne, weil er schon öfter meine Arbeiten vom Deutschen ins Brasilianische übersetzt hat. Réne ist einerseits ein renommierter Psychoanalytiker und Autor von mehreren Fachbüchern in Saó Paulo, der auch systemisch denkt und arbeitet, NSC®, wingwave® und EMDR® mit einbezieht und auch Traumatherapie anbietet. Réne Schubert ist, wie auch Cornelia Bonenkamp, Freund:in von INTAKA und beide sind sozusagen unsere INTAKA-Basisstation in Brasilien. Danke für diesen Beitrag. Gerhard Gigler

    Medical and Research Publication Neurologie, Neurochirurgie & Psychologie (2025)

    Menschen, die sexuell missbraucht wurden – das ist nicht das Trauma, das ist das traumatische Ereignis. Das Trauma ist die Scham, die sie dazu bringt, sich selbst aufzugeben. Das Trauma ist, dass sie glauben, sie hätten nichts Besseres verdient. Das Trauma ist, dass sie denken, es sei ihre Schuld. Das Trauma ist, dass sie sich von ihrem Körper trennen, weil es zu schmerzhaft ist, verbunden zu bleiben – und so wird die Dissoziation zu einem häufigen Bewältigungsmechanismus.“  Gabor Maté

    Eine Studie der brasilianischen Anwaltskammer – OAB Rio de Janeiro (2009) zeigt, dass etwa 61 % der Kinder und Jugendlichen, die Opfer sexueller Ausbeutung in Brasilien wurden, Suizidgedanken hatten. Von diesen haben mehr als 58 % tatsächlich einen Suizidversuch unternommen. Als Grund nannten 20 % die erlittene sexuelle Gewalt.

    Laut der Plattform „Maio Laranja“ (“Mai Orange”), die Sensibilisierungskampagnen gegen sexuellen Missbrauch und Ausbeutung von Kindern betreibt, werden in Brasilien stündlich drei Kinder missbraucht. Etwa 51 % dieser Opfer sind zwischen 1 und 5 Jahre alt.

    Eine UNICEF-Studie von 2017 bis 2022 ergab: „Brasilien verzeichnete 179.277 Fälle von Vergewaltigung oder sexuellen Übergriffen gegen Personen bis zu 19 Jahren – im Durchschnitt fast 45.000 Fälle pro Jahr. Unter ihnen waren 62.000 Opfer Kinder bis zu 10 Jahren. Die Form der Gewalt hängt vom Alter des Opfers ab. Kinder sterben oft infolge häuslicher Gewalt durch ihnen nahestehende Personen. Dasselbe gilt für sexuellen Missbrauch innerhalb des eigenen Heims.“

    Laut der Plattform „SBT News“ registrierte Brasilien im Jahr 2023, 71.687 Meldungen über Online-Ausbeutung von Kindern – ein Anstieg von 77 % im Vergleich zum Vorjahr – und damit die höchste Zahl seit 18 Jahren.

    In seinem Buch weist Bessel van der Kolk (2020) auf eine Studie hin, die Kindesmissbrauch als das größte Gesundheitsproblem der USA bezeichnet. Die damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten übersteigen die von Krebs und Herzkrankheiten. Die Beseitigung von Kindesmissbrauch würde die allgemeinen Depressionsraten um mehr als die Hälfte, Alkoholismus um zwei Drittel und Suizid, Drogenkonsum und häusliche Gewalt um drei Viertel senken.

     

    Die Narben des Missbrauchs in der klinischen Praxis
    Ich begann meine klinische Arbeit in São Paulo, Brasilien, in psychiatrischen Krankenhäusern, später in Rehabilitationskliniken und sozialen Einrichtungen. Am Anfang arbeitete ich mit Erwachsenen, später auch mit Kindern und ihren Erziehungsberechtigten. Emotionale Beziehungen und deren Komplikationen – Verlust, Unausgewogenheit, Inkompatibilität – waren wiederkehrende Themen. Als Student der Psychoanalyse und der Wechselwirkung zwischen Geist und Körper war es unerlässlich, sich mit Psychopathologie und menschlicher Sexualität auseinanderzusetzen.

    Schnell erkannte ich, wie häufig das Thema Missbrauch in klinischen Zusammenhängen auftauchte – und welche Auswirkungen es auf die Herkunftsfamilie und spätere Beziehungen hatte. Verbaler, physischer und sexueller Missbrauch. Körperliche Spuren, Erinnerungen und emotionale Narben, die über die Zeit hinweg als Unmöglichkeiten, Ablehnung, Unsicherheit, Verzweiflung, Rache und sogar Auslöschung nachhallen.

    Leider habe ich in vielen Sitzungen miterlebt, wie tief Missbrauch den Körper, die Erfahrungen und das Potenzial eines Menschen verletzen kann. Manchmal so tief unterdrückt und im Unbewussten vergraben, dass er sich über den Körper äußert – in Form von Symptomen wie Unfähigkeit, Verleugnung, Unvereinbarkeit mit Intimität und Zuneigung, Schwierigkeiten bei der Selbstentdeckung und beim Potenzial zur Veränderung.

    Ein Subjekt, ein Körper, geprägt von frühem Trauma. Während Sexualität eine treibende Kraft der menschlichen Entwicklung ist, kann sie – wenn sie zu früh oder gewaltsam eingeführt wird – betäuben, blockieren, ersticken oder das emotionale Wachstum, Beziehungen und die Zukunft ertränken.

     

    Die Wunde, die offen bleibt
    Ich habe kürzlich einen erschütternden Artikel gelesen, in dem eine Mutter den langen Kampf ihrer Tochter mit Depressionen, Hoffnungslosigkeit und geringem Selbstwertgefühl beschreibt – ein Kampf, der schließlich zu einem Suizidversuch führte. Leider sind solche Berichte in der klinischen Praxis nicht ungewöhnlich.

    Emotionale Wunden, die in jungen Jahren zugefügt werden, sind am schwersten zu verarbeiten und zu überwinden, da sie in einer Phase entstehen, in der emotionale, neurologische und physiologische Reife, Anpassungsfähigkeit und Abwehrmechanismen noch nicht vollständig entwickelt sind.

    Es gibt viele Formen von Missbrauch: physisch, verbal, moralisch, psychologisch, sexuell. Als Erwachsene fühlen wir uns oft hilflos angesichts von Aggressionen, die uns von Menschen aus unserem sozialen Umfeld angetan werden. Noch schlimmer ist es, wenn dies Kindern widerfährt. Kindliche Unschuld, Unreife und fehlende psychologische Ressourcen machen sie besonders verletzlich – sie brauchen Fürsorge, Unterstützung und Schutz durch verantwortungsvolle Erwachsene.

    Kindliche Unschuld und Verwundbarkeit verstärken die Auswirkungen des Missbrauchs. Unser Mangel an Verständnis, Erfahrung und Wissen – in Kombination mit Angst, Scham, Schuld und Groll – führt oft dazu, dass wir den Missbrauch tief in unseren Körper vergraben und uns immer wieder selbst verletzen. Missbrauch verursacht Trauma, das die Entwicklung eines Kindes ernsthaft und tiefgreifend fragmentieren kann. Diese Gewalt trifft das Kind nicht nur im Moment selbst, sondern wirkt noch lange danach zerstörerisch – sie kommt zu früh, schnell und ist zu intensiv, um vom jungen Opfer verarbeitet werden zu können.

     

    Die verheerenden Folgen des Missbrauchs
    In der Psychologie wird Trauma als seelische Wunde definiert, die nach einem intensiven und meist frühkindlichen Erlebnis bestehen bleibt, das die Bewältigungsfähigkeit eines Menschen übersteigt. Es wird zu einer andauernden inneren Präsenz – mit wiederkehrenden Gefühlen, Gedanken und negativen Überzeugungen, die Beziehungen, Wahrnehmungen und Verhalten beeinträchtigen.

     

    Laut einem Artikel von Psicologias do Brasil (2016):

    „Traumata entstehen aus realen oder wahrgenommenen Bedrohungen für Leben oder körperliche Unversehrtheit. Sie bilden die Grundlage für eine Vielzahl psychologischer und hormoneller Störungen – von Depression über Substanzabhängigkeit bis hin zu Fettleibigkeit, Zwangsstörungen, akuten Belastungsstörungen und PTBS. Viele Suchtverhalten stehen in Zusammenhang mit frühkindlichem Trauma. Studien zeigen, dass frühzeitige Traumatisierung die neurologische Entwicklung dauerhaft verändert.“

     

    Ebenso betont França (2020):

    „Menschen, die sexuell missbraucht wurden, entwickeln häufig selbstzerstörerisches Verhalten, einschließlich Suizid, oder andere schädliche Muster wie Drogen- und Alkoholmissbrauch. Sie fühlen sich dauerhaft niedergeschlagen, unangemessen, zwanghaft. Auch wenn der Missbrauch längst vorbei ist, verharren sie oft in einem Kreislauf der Selbstzerstörung. Frühkindlicher Missbrauch, insbesondere sexueller, ist ein erheblicher Risikofaktor für psychische Störungen und Suizid.“

    In The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma (2020) zeigt Bessel van der Kolk die langfristigen Auswirkungen von Kindesmissbrauch auf das Erwachsenenleben und zwischenmenschliche Beziehungen auf. Missbrauchte Kinder sind hyperwachsam, misstrauisch, defensiv und ziehen sich zurück. Opfer von Inzest beispielsweise haben Schwierigkeiten, zwischen Gefahr und Sicherheit zu unterscheiden – ihr Trauma verzerrt nicht nur ihre Wahrnehmung, sondern auch das Körperempfinden von Sicherheit.

    Häufige Folgen sind Dissoziation und der Verlust von Selbstregulation. Nichts erscheint sicher – nicht einmal der eigene Körper. Sie misstrauen anderen, unterdrücken ihre Neugier und zweifeln an ihren eigenen Sinnen und an der Realität.

     

    Wie Silva & Teixeira (2017) erklären:

    „Trauma ist eng mit dem Gefühl der Ich-Ohnmacht verbunden – einer Überflutung des inneren Erlebens, die die symbolische Verarbeitung des Geschehens verhindert. Wenn Erwachsene das Leiden eines Kindes abtun oder verharmlosen, entwerten sie die Erfahrung – was zu Gefühlen von Verlassenheit, Verwirrung und Einsamkeit führt.“

    Der deutsche Psychotherapeut Franz Ruppert (2022) erklärt, Trauma entstehe, wenn die Realität so unerträglich werde, dass wir Illusionen erschaffen, um zu überleben. Er beschreibt sexuelles Psychotrauma als den Moment, in dem der eigene Körper benutzt wird, um die Bedürfnisse eines anderen zu befriedigen – was unerträgliche Emotionen auslöst: Schmerz, Angst, Trauer, Wut, Ekel, Schuld und Ohnmacht.

    Das Opfer fühlt sich fragmentiert – wie ein zerbrochener Spiegel, der nur ein verzerrtes Ganzes zurückwirft. Gedanken, Fantasien, Empfindungen und Beziehungen sind davon betroffen.

     

    Therapeutische Möglichkeiten

    Trotz all des Schmerzes und der Komplexität, die in diesem Artikel angesprochen wurden, gibt es Hoffnung. Fachkräfte aus den Bereichen Gesundheit, Erziehung und Justiz entwickeln Ansätze für den Umgang mit Opfern und auch mit Tätern. Dieses Thema betrifft uns alle – es ist ein sozioökonomisches, politisches und kulturelles Problem. Es muss anerkannt, hinterfragt und verarbeitet werden.

    Heute existieren zahlreiche Unterstützungsangebote – Psychotherapie, medizinische Begleitung, Familienberatung, sowie therapeutische, pädagogische, soziale und religiöse Einrichtungen. Heilung ist in der Regel ein langfristiger und behutsamer Prozess, der sich nach dem Tempo jedes Einzelnen und seines familiären Umfelds richtet.

    Wie Bessel van der Kolk (2020) schreibt, besteht die beste Möglichkeit, die Auswirkungen von Gewalt und Missbrauch zu verstehen, darin, den Überlebenden zuzuhören – ihren Geschichten, ihren Gefühlen, ihren Überzeugungen. Diese Menschen haben ihre innere Landkarte der Welt verloren. Als Psychotherapeuten müssen wir ihnen helfen, diese innere Landkarte wieder aufzubauen – langsam, urteilsfrei und mit Respekt vor ihrem individuellen Tempo und Erleben.

    Therapie bietet einen Raum des Zuhörens und der Unterstützung – für die Klient:innen und oft auch für ihre Familien. Das Ziel ist nicht, das Ereignis, den Täter oder die Gesellschaft auszulöschen, sondern die Ressourcen zu finden, um trotz des Traumas weiterzugehen.

    Zuhören, Ausdruck zulassen, Anerkennung und Bewusstsein fördern – das bedeutet, den Kreislauf von Einschüchterung, Stigmatisierung, Isolation, Schuld, Scham und Selbstzerstörung zu durchbrechen.

    Es ist möglich. Es ist sensibel und erfordert große Sorgfalt. Aber mit Menschlichkeit und Respekt ist es machbar.

    Ich schließe mit einem Vers aus dem Gedicht „Apesar de você“ (1978) von dem brasilianischen Komponisten Chico Buarque:

    „Trotz dir 
    wird morgen
    ein neuer Tag sein.“

    René Schubert

     

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